Meine Freundin Claudia arbeitet als Psychiaterin in der Nähe von Heidelberg. Als ich sie bat, ihr Lieblingsschmuckstück anzulegen, um sie damit fotografieren zu können, zögerte sie nicht lange. Sie nahm das Armband ihrer Mutter aus einer Schublade heraus: ein wunderschönes breites Silberarmband, das von einem Goldschmied in einer alten Goldschmiede Technik gefertigt wurde. Jedes Element wurde ziseliert und bekam dadurch einen dreidimensionalen Charakter. Das Armband besteht aus mehreren identischen Elementen, die durch Ösen miteinander verbunden sind, um die Beweglichkeit des Schmuckstücks zu gewährleisten. Mit diesem Armband hielt Claudias Vater um die Hand seiner zukünftigen Frau an, es handelt sich also um ein außergewöhnliches Verlobungsschmuckstück.
Leider verlor Claudia ihre Mutter sehr früh, als sie selbst noch ein Teenager war. So ist das Armband ein ganz wichtiges Erinnerungsstück, das ihr von ihrer Mutter geblieben ist und sie beim Tragen gedanklich mit ihr verbindet.
Vor ungefähr einem Jahr habe ich mir das Notizbuch „Steal like an Artist“ von Austin Kleon gekauft und es, nachdem ich einige Übungen daraus gemacht hatte – entgegen der „Regieanweisung“ des Autors -, ins Regal gestellt und dort vergessen. Kleon weist ausdrücklich darauf hin, dass man das Notizbuch immer mit sich herumtragen soll und wann immer man kann eine Übung durchführen sollte. Auf der Suche nach neuen Inspirationen und Herangehensweisen bei meiner Arbeit als Goldschmiedin, fiel es mir das Buch plötzlich wieder in die Hände und ich fing an es noch einmal durchzublättern. Sehr erstaunt war ich über die Übungen, die ich schon gemacht hatte. Auch an diese konnte ich mich absolut nicht mehr erinnern.
„O.K. ich versuche es nochmal“, sagte ich mir und machte mich an die nächste Übung. Auf einer Doppelseite aus dem Buch „Moby Dick“, sollte man so lange Wörter durchstreichen, bis man am Ende ein Gedicht geschrieben hatte. „Das kann ich nicht!“, schoss es mir als Erstes durch den Kopf. „Und schon gar nicht auf Englisch!“ Irgendwie blieb ich dann doch an den Wörtern hängen und nahm verschiedenen Anläufe, ging mehrmals gedanklich in unterschiedliche thematische Richtungen.
Irgendwann setzte sich eine besondere Kombination aus Wörtern durch und es ist kaum zu glauben, am Ende der Übung blieb eine Art Gedicht übrig. Völlig überraschend war das für mich, denn ich hatte noch nie Gedichte geschrieben, außer vielleicht einmal als Jugendliche in der Schule. Etwas war durch das Starren auf die Wörter passiert, so als hätten sich die Wörter plötzlich aus dem eigentlichen Kontext heraus gelöst und sich zu einer eigenen Geschichte zusammen gesetzt. Ich war dermaßen begeistert von dieser Übung, dass ich mir vornahm, von nun an das Notizbuch mit mir herumzuschleppen.
An diesem Tag ging ich voller Tatendrang an meine Werkbank und probierte eine Technik aus, die ich schon lange im Kopf gehabt, aber immer wieder nach hinten verschoben hatte. Das „Spielen“ mit Wörtern hat mir geholfen auch in anderer Hinsicht meine Blockade zu lösen.